Wenn in ferner Zukunft irgendjemand mal im Fach Literaturwissenschaften über „Strömungen des deutschen Humors im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts“ promoviert – ich wette, die Känguru Chroniken werden darin einen prominenten Platz einnehmen. Wer sie nicht kennt: das macht wirklich überhaupt nichts… Aber lustig ist es schon, vor allem als Hörbuch, das erzählte Leben eines mäßig erfolgreichen Kleinkunst-Literaten in Berlin Kreuzberg, der etwas unfreiwillig mit einem Nirvana-liebenden kommunistischen Känguru zusammen zieht und mit diesem die großen und kleinen Fragen des Lebens diskutiert.
Der neue Mitbewohner singt gerne, vor allem eben Nirvana. Zu passenden und unpassenden Gelegenheiten intoniert er mit hoher, kratziger Stimme:
With the lights out, it’s less dangerous
Here we are now, entertain us
I feel stupid and contagious
Here we are now, entertain us
… ein warmer Strom 90er Jahre Habitus durchflutet dann die Texte, und schon deshalb finde ich das Känguru sympathisch. Wir könnten gemeinsam in Clubs, die damals noch Disko hießen, getanzt und Kurt Cobains Schmerz mitgetragen haben, stets im Versuch, die Texte, die damals noch nicht Lyrics hießen und sekundenschnell im Netz auffindbar waren, zu verstehen und mitzusingen. Das Känguru, es plappert auch sonst sehr viel, Politisches, Alltägliches, Belangloses. Manchmal so viel, dass es auch mal gegen eine Glasscheibe hüpft, die von zwei Arbeitern auf der Straße getragen wird. Das unentwegte Plaudern ist Aufhänger für die kleinen Dialogszenen aus dem großen Berliner Alltag, mit denen der Erfinder Marc-Uwe Kling mittlerweile erfolgreich vier Bände und deutlich mehr Live-Performances gefüllt hat. Heiter und humorvoll, man hört es sich gerne an. In der Freizeit.
Nur gut, dass das Känguru keiner echten Berufstätigkeit nachgeht. Denn zu viele und zu laute Geräusche, so sagen es Umfragen, gehören heute zu den großen Störfaktoren im Büro. Schnell wäre unser armes Beuteltier gedisst und müsste sich an die/den Ombudsfrau/-mann wenden. Oder die KollegInnen würden das tun. Vielleicht würden sie auch, in einer Organisation ohne Ombudsfrau, bei all dem Nirvana Getröte, Tante Google um Rat fragen wie man sich davor schützt. Unter dem Stichwort „nervige“ würde man den schnell angebotenen Begriff „nervige Kollegen“ wählen und was dagegen zu tun sei.
Die entsprechenden Foren sind voll mit Berichten von „Horrorkollegen“, die, ansonsten nett, ihre Umgebung regelmäßig mit selbst produzierten oder über zu laute Kopfhörer mit allerhand gespotifytem von der Arbeit abhalten. „Weil Erwürgen keine Lösung ist“, so hilft beispielsweise fitforfun.de dem bis über die Belastungsgrenze beschallten Team, müsse man eben lernen, mit nervenden Mitmenschen im Büro umzugehen. Klärende Gespräche suchen, Distanz wählen, indem man sich in der Küche ein Müsli (!) mache, locker bleiben und prüfen, ob ein Teil des Problems evtl. an eigenen Vorurteilen liegt. (Der Begriff „Müsli“ ist übrigens gleich mit einem Link zu Müsli-Rezepten hinterlegt).
Sound@work ist out. Nervt. Stört, besonders im open office. Manchmal denke ich: Schade, eigentlich! Ist doch der Worksong selbst ein historisches Genre, Jazz und blues haben ihre Wurzeln im Gesang der afrikanischen Sklaven auf amerikanischen Feldern. Gemeinschaftsfördernd, identitätsbildend. Gesund ist es zudem, das sagt die Wissenschaft, für Herz, Kreislauf, psychisches Wohlbefinden… Gebilligt wird das Singen im Kontext von Arbeit, so meine Erfahrung aus einem langjährigen Konzernleben, erst dann wieder, wenn es Bühnentauglichkeit und DSDS-Verwandtschaft aufweist. Dann wird aus dem/der nervigen Kollegen/in das Talent, mit dem man doch neulich erst noch im Projekt gearbeitet hat, man sonnt sich in einer Mischung aus wohliger Promi-Nähe im Licht der auf Mitarbeiterveranstaltungen geehrten und dem Glauben daran, dass Aufstieg und Sichtbarkeit auch mit bislang unbeachteten Fähigkeiten möglich ist. Ist es noch Kunst oder „nur“ Selbstmarketing im Scheinwerferlicht von Change- und Talentmanagement? Diese Frage soll hier offenbleiben.
In klein haben die Brandenburger Gemüsehändler, die im Sommer auf der Schönhauser Allee ihr temporäres Lager aufschlagen, derzeit in Berlin ihre Bühne gefunden und inszenieren sich hier singend. So sorgen sie zumindest bei den dahineilenden Prenzlbergern manchmal für ein Lächeln und für Bekanntheit, umsatzschädigend ist das sicher nicht. Der Sound: Deutschland, 1963. Mit Mikrofon und Verstärker professionell ausgestattet bieten sie ihre Ware feil:
Frische Beeren sollst du kaufen,
denn zum Essen sind sie da…
…und wer sieht dann nicht stattdessen den jungen Cliff Richard und seine roten Lippen, und kauft und kauft und kauft die roten Johannisbeeren Himbeeren Erdbeeren?
Die beiden singen im Duett, einig in ihrer Kollegialität, und kein wildes Tier, noch nicht einmal ein Känguru, würde wagen, die Melodien zu unterbrechen oder gar nach dem Ombudsmann zu rufen. Wäre der Gemüsestand ein startup, so würde „Great Place to work“ wohl eines Tages vorbeikommen und ein Siegel verteilen, bei kununu würde man Kommentare finden wie „coole Kollegen, hier spürt man Zusammenhalt“ – oder „Kreativität steht hier ganz oben“.
Wer sich selbst mal mit einer Performance im eigenen Job ausprobieren will, die passende Bühne aber noch nicht gefunden hat, dem sei noch der Tipp gegeben, dass auch youtube gut als Bühne taugt und den Coolness-Faktor über die Grenzen einer Schönhauser Allee hinaus verstärkt. Über Nacht wurde so beispielsweise 2015 der Polizist Jeff Davies aus Delaware zum Social Media Star: 43 Millionen Aufrufe erhielt sein Dashcam-Video mit seiner „Shake it Off“-Interpretation von Taylor Swift. Einmal halb Deutschland oder auch gut viermal ganz Schweden sah ihm bereits beim shaken zu, und dabei verkauft er noch nicht mal Johannisbeeren!
Leider, oder zum Glück? nicht privat gefilmt und auch nicht im Netz auffindbar, bleibt mir auch die Garderobiere im Pariser Musée de l’Orangerie im Gedächtnis, die ich im April traf. Man steht hier in der Regel sehr sehr lange an, um die wunderbaren Seerosen Claude Monets zu betrachten. Sie sang, unbeirrt der Menschenmenge, unentwegt, während sie routiniert Jacken und Rucksäcke verstaute. Arien, Chansons, Pop-Hits. Laut und das ganze Foyer füllend, mit leichtem Vibrato. Während die Kollegin ab und zu die Aufgabe übernehmen musste, der dummen Touristin, die sich nicht zuvor über die strengen Regelungen der Taschenabgabe informiert hatte, Rede und Antwort zu stehen, war von ihr nur ab und an ein Nicken in eine Richtung zu ergattern. Einmal Kinn nach links, zu verstehen als: „Tasche hierhin bitte“ oder ein Kopfschütteln („nein, nicht die Jacke!! Die Tasche!“). Durch nichts ließ sich ihr Lied unterbrechen, ein Lächeln auf den Gesichtern in der Schlange, ein völlig effizienzbefreiter Vorgang. Wie selten es das noch gibt, und wie schön sich das doch anhört, ganz ohne dabei gleich an Kulturentwicklung zu denken. Ob ihre Kollegin sich jetzt öfter mal ein Müsli macht, weiß ich nicht; mir wird der Moment analogen Vergnügens und Aufschauens vom eigenen Smartphone-Universum in Erinnerung bleiben.
Von Paris wieder nach Berlin: Als ich kürzlich in die U6 in Berlin Stadtmitte umstieg, war der Eingang an einem Ende des Bahnsteigs gesperrt. Zwei Arbeiter kamen mir entgegen, auf der Treppe stand ein Radio, sie stimmten zu zweit laut ein in den Refrain:
Ich weiß nicht wo sie hingeht,
woran es liegen kann.
Sie hat wohl ihre Gründe und es geht mich auch nichts an,
doch seit ewiger Zeit leb ich Tür an Tür…
Fröhlich waren sie, und nahmen die Stufen im Takt. Die Panzerglas-Scheibe in ihrer Mitte trugen sie vorsichtig, vorsichtig die Treppe hinunter. Ich sah mich um: Puuh, kein Känguru in der Nähe – nochmal gut gegangen.