Diese Woche habe ich mich als digital native verkleidet und war auf der re:publica. Eingeweihte sagen ja #RP19. Zu meiner Verkleidung gehörte: 1. auf keinen Fall zu verraten, dass ich zum ersten Mal dabei war, 2. Bei jeglicher Erwähnung von Namen prominenter BloggerInnen und PodcasterInnen wissend zu nicken, auch wenn es um ihre Vorträge vom letzten Jahr ging (siehe 1.), und 3. nur engen Vertrauten zu verraten, dass ich mein Ticket bei einer Verlosung auf Twitter gewonnen habe.
Zu meiner Verteidigung muss ich aber sagen: Ich WILL seit Jahren auf die #rp, hatte bislang nie wirklich Zeit, oder habe sie mir nicht genommen, der Ticketgewinn kam unverhofft und zeitgleich mit einem abgesagten Kundentermin und hat mich wirklich wirklich echt glücklich gemacht. Danke auch hier nochmal an den Sponsor.
Ich lerne gern durch Zuhören. Mich setzen jedoch Großveranstaltungen auch immer unter den Druck, möglichst viel mitnehmen zu wollen bei gleichzeitig großer Schwierigkeit, konzentriert den Vorträgen und Podien mit sehr viel Nebengeräusch zu folgen. 613 Panels mit knapp 900 Speakerinnen und Speakern. Zwar bin ich am Montag auf dem Weg in die „Station“ Berlin gut gewappnet: Neben der Durchsicht des Programms und der Auswahl der persönlichen Favoriten habe ich auch die Vorbereitung der Vorbereitung in Form des passenden App-downloads (es gibt drei! unterschiedliche! Programm-Apps!) zufriedenstellend gemeistert. Aber ich weiß auch: Das kontinuierliche Verpassen (des besten Panels, der wichtigsten Gäste, der Party) ist einem solchen Veranstaltungsbesuch immanent. Ich gehe seit Jahren auf die Berlinale und weiß in dem Fall wirklich, wovon ich rede. NIEMAND von all den anderen Menschen hier kann alles mitbekommen, was so passiert, gesprochen, gepostet und getwittert wird. Weil ich Organisationsentwicklerin bin, ist die „Denkfabrik“ des BMAS eine meiner ersten Anlaufstellen. Spannende Themen, vieles kenne ich – und freue mich, dass die Diskussion darüber, wie wir arbeiten wollen, den Raum füllt.
Die abendliche Nachbereitung findet auf youtube statt. Meine online Vortrags-Highlights: Die Tiroler Abgeordnete Sigi Maurer beispielsweise, die nochmal die ganze Story des verbalen Übergriffs eines ihr bekannten Mannes, bei dem sie am Ende angeklagt wurde, aufrollt. It’s the patriarchy, stupid! (wer den Fall nicht kennt: unbedingt anschauen!). Und gleich dazu die Aufbereitung des humoristischen in diesem und anderen Fällen durch Ingrid Brodnig, die mir endlich mal Memes so erklärt hat, dass ich sie verstehe. Wie der Algorithmus bei Uber in USA über Verdienst und Schicksale der Familien der betroffenen FahrerInnen entscheidet, zeigt Alex Rosenblat auf erschreckend nicht-gefühlter Datenbasis. Auch Germany’s next top speaker Alexander Gerst war da.
Mir gefiel zudem vor Ort besonders die TINCON, der Jugendteil der re:publica. Hier wird Schulklassen gezeigt, dass Digitalisierung nicht nur likes auf Insta und die neueste TicToc Challenge bedeutet, sondern etwas, das uns irgendwie als Gesellschaft betrifft und über das auch man reden kann, auch darüber, was es mit uns macht. Dass es Menschen gibt, die interessante Wege gehen, dass es andere Berufe als „Influencerin“ gibt, mit denen man glücklich werden kann und dass es ganz cool ist, in kritischer Gemeinschaft zu einem Thema zusammen zu kommen. Aber dass man z.B. Authentizität nochmal neu denken muss, dass es keine „ironischen likes“ gibt und absolut kein/e echte/r InfluencerIn wirklich sein / ihr Privatleben im Netz zeigt: das lehren einen hier z.B. die wunderbar polterige Sophie Paßmann in kurzen Sequenzen, gleich nebenan die silent Disco. Allen Eltern kann ich nur empfehlen: geht hier hin, ob mit oder ohne Eure Kinder – ihr könnt was lernen!
Bei all der Fülle erlebe ich persönlich auf Großveranstaltungen immer den Moment, bei dem ich etwas ziellos durch die Hallen schlendere. Das letzte Kaffeedate liegt eine halbe Stunde zurück. Mit allen Bekannten und KollegInnen ist für heute gesprochen. Für noch einen Vortrag habe ich schlichtweg keine Energie. Es entsteht dieser kleine Augenblick der Einsamkeit unter all den DigitalnomadInnen, zu denen ich ohnehin nur bedingt gehöre (denn ich führe kein Internet-Startup, von dessen Erfolgsstory ich berichten kann. Naja sagen wir NOCH nicht).
Es ist Tag 2, ich checke in einen co-working space ein, setze mein Headset auf, um so zu tun, als hörte ich Musik (Teil 4 der Verkleidung) und denke zurück an den Beginn meiner beruflichen Laufbahn. In den frühen 2000ern war die Cebit DAS Event. Ich arbeitete als Projektleiterin in einer Initiative zur Förderung digitaler Bildung, die Messe war ein Pflichttermin zum Halten und Gewinnen von Sponsoren. Cebit, das hieß damals: Eine Woche lang Leben in einer Halle mit trockener Luft, kaputten Fingernägeln vom Kartons aufreißen, endlosen Wegen zu den Toiletten, Sekt spätestens ab 17:00 Uhr und schlafen in WGs bei wildfremden Leuten für 80 Euro die Nacht. Ganz Hannover war zum Hotel geworden.
Tagsüber musste man sich irgendwie befreunden mit Leuten, die einem den Eintritt auf die wichtigen Standpartys klar machten und den Schritt hinter die Absperrung nach 21 Uhr, denn was sollte man sonst auch abends machen? Ich dachte damals, so geht Arbeiten halt und machte mit. Hinter dem rot-weißen Absperrband demonstrierte die Anzahl der spärlich bekleideten Tänzerinnen und Showgirls den Erfolg des Unternehmens. Je größer der Konzern, desto protziger die Performance, desto umfangreicher das Cocktail-Angebot an der Bar. Mit einem Nokia-Handy gehörte man irgendwie dazu, in diese erste Phase der Internet-Blase, die sich heute erinnerungstechnisch irgendwo zwischen den Worten UMTS-Lizenzen und Tamagochi einreiht.
Hashtags wie #aufschrei und #metoo waren noch nicht erfunden, wie es überhaupt auch sonst noch keine hashtags gab. Davor, als Berufsanfängerin unter 1,65 als laufender Meter Karrierewunsch wahrgenommen und zu später Stunde in herzhafte Umarmungen untergeklemmt zu werden, lernte ich, mich zu schützen. Meine damalige Verkleidung in Hosenanzüge, die mir nicht standen, half. Manche wussten, dass man irgendwas für die Mädchen tun musste, für die kleinen und großen Töchter, von denen man nicht wollte, dass sie später mal Showgirl auf der Cebit werden. Initiativen wie der Girls‘ Day entstanden, und so etwas wie ein frühes Bewusstsein, dass Berufswahl etwas war, das man auch als Digitalwirtschaft anfangen müsste, zu gestalten. Das digitale Produkt, die Chancen, die Zukunft, die Veränderung: irgendwie war das schon wichtig; Schröder hatte vor noch nicht allzu langer Zeit neue Zeiten ausgerufen, da musste was dran sein. Aber ganz ehrlicherweise hätten wir damals auch auf einer Messe für genmanipuliertes Salat-Saatgut oder für Traktoren herumstehen können. Die Botschaften wären dieselben gewesen. Die Haltung war business, der Tonfall „up or out“, die Sprache Patriarchat.
Das fällt mir auf der re:publica auf: wie selbstverständlich es hier ist, einfach als Menschen zusammen zu sein, Mann, Frau, whatever. Als Interessierte, als Betroffene, als GestalterInnen dessen, was uns ausmacht, wenn wir digitaler werden. Das, was die Cebit nie wurde, ist der re:publica heute gelungen: zum Klassentreffen derer zu werden, die sich für Digitales nicht nur als Momentaufnahme interessieren, sie nicht als beliebiges Produkt der Deutschland-AG begreifen. #tl;dr (too long; didn’t read) – das Motto der, ja was eigentlich? Veranstaltung? Messe? des Festivals? – entspringt der Geheimsprache derer, die in den sozialen Medien täglich unterwegs sind. Sich liebevolle „in-app“ Blasen-Diskussionen liefern und doch Change-Motoren sind in der Welt, in der wir uns bewegen. Erwachsen sind trotz Bällebad. Digitales diskutieren, heißt hier Gesellschaft und Zukunft sichtbar machen, und in der Hektik des news-feed-wisch-und-weg drei Tage mit sehr analogen Formaten fragen: haben wir uns wirklich alles durchgelesen auf den Beipackzetteln von Algorithmen, KI und Datenschutz?
Zweifellos: Auch die re:publica ist den Kinderschuhen entwachsen und kein Geheimtipp mehr. Echtes Revoluzzertum findet sich allenfalls im leise gehauchten Protest einer Teilnehmerin am Eingang, warum die Springer-Presse hier vor der Tür ihre Produkte verteilen dürfe. Professionelles Veranstaltungsmanagement verteilt den Diskurs in angemessene Raumgrößen, die coolen Sprüche der Digitalen gibt’s auf T-Shirts gedruckt zu kaufen, Taschen- und Safety-Checks sind inkludiert und Standflächen vermutlich nach Geldbeutelgröße vergeben. Die Musikrichtung auf dem Hof nannte man in den 90ern easy listening, ich glaub, das heißt heute anders. Aber die Themen, das sind die richtigen. Ihr seht, ich bin angefixt. Und winke nächstes Jahr gelangweilt ab, wenn mich jemand fragt, ob ich zu xy zum Podium, äh Panel mitkomme („Ach so, ja cool, ne, da war ich letztes Jahr, ähnliches Thema, das bringt sie ja auch im podcast immer wieder mal“). Bin ich jetzt Teil der Blase? I don’t know. Aber ein paar Vokabeln, die kann ich jetzt. Und besorge mir ein Early-Bird-Ticket.
Monika Danner
PS.: Wer kommt nächstes Jahr mit mir zur #rp20 und macht ein gemeinsames Foto im Bällebad?
Moni, richtig toller Blogpost! Und ich bin nächstes Jahr gerne dabei (wollte schon immer mal hin). Bis dahin kann ich ja noch üben .. Liebe Grüße
Nächstes Jahr komme ich mit!
Das klingt nach einem Anästhesistenkongress ; )
Sehr cooler Post. Macht viel Lust, mich Dir als Expertin nächstes Jahr anzuschließen, ein weiteres Mal, dass ich Dir folge:-)