Frau Steffens und die Unbio-Gurke

Viel ist geschrieben worden über die anhaltende Gentrifizierung im Prenzlauer Berg. Mit der Entdeckung des Bionade-Biedermeier fing es 2007 an, und spült seitdem eine nicht enden wollende Serie von Comics, Serien und Artikeln, die häufig ein Bedauern und ein unklares Gefühl von irgendwas-geht-beim-Verändern immer kaputt formulieren, in die threads unserer sozialen Medien und in die überregionale Presse. Mittlerweile schreibt man auch im Kiez selbst darüber, was im Kiez nicht ok, ist und kann sogar einen renommierten Buchpreis dafür bekommen.

Und vieles stimmt ja auch. Gleich und Gleich gesellt sich gern, heißt ein altes Sprichwort, und so lassen sich wirklich viele Gemeinsamkeiten feststellen, wenn man einmal einen Querschnitt durch die BewohnerInnen des mittlerweile einwohnerstärksten Bezirks Berlins zieht. Was mal cool und anders war, ist längst Mainstream geworden, dafür sorgen die Gesetze für Vielteilchensysteme, gerade erst wieder wissenschaftlich bewiesen von einem Wissenschaftler names Jonathan Touboul. Wohnt man mittendrin und ist Teil der Spezies, fühlt sich das allerdings meistens ganz nett an. Man duzt sich, und zwar absolut und ohne Ausnahme. Man teilt Modegeschmack und Kita-Erfahrungen, 100 Euro für Kinderschuhe auszugeben ist teuer aber irgendwie ok, genauso wie 100 Euro nicht zu haben, darüber zu sprechen und lieber 4 Euro für Kinderschuhe auf dem Flohmarkt zu lassen und sich übers Schnäppchen zu freuen. Ob man Decathlon gut finden darf, ist Stand heute noch nicht fertig verhandelt, auf jeden Fall aber ist es echt in Ordnung, dass die Kinder jetzt freitags auf die Straße gehen um für’s Klima zu demonstrieren. Ein ähnliches Verständnis für nachbarschaftliche Toleranz führt zu spontanen Grillabenden auf der Straße und auch die Omas zu Besuch finden Gesprächsthemen auf der Spielplatzbank. Der Prenzlauer Berg ist ein System mit Werten, Spielregeln, und einem gelebten Kommunikationsethos, das allen, die diese Werte teilen, (und die finanziell mithalten können – das ist eine der Kehrseiten des Biotops), das Leben sehr häufig sehr angenehm macht.

Spannend wird es ja immer dann, wenn der/die intellektuell-geschärfte, modisch und zugleich nachhaltig gekleidete, politisch gebildete, charmant-witzige und natürlich in einem wahnsinnig interessanten Beruf unterwegs seiende EndvierzigerIn auf die ganz normale Infrastruktur trifft, die eine Stadt so braucht, um Stadt zu sein, und die hier nicht anders ist als in jedem anderen Bezirk. Sein bzw. ihr Biotop und damit also sein/ihr System verlässt, sozusagen, um ein anderes System mit anderen Regeln zu betreten. Café- und Laden-BesitzerInnen für nachhaltige Babykleidung, hübsche handgenähte Ledertäschchen und Handgetöpfertes ausgenommen.

Denn Müllabfuhr und Straßenfeger, Postbankschalter-Angestellte, Zahnarzthelferinnen, BVG-Kontrolleure, Schulsekretärinnen, ApothekerInnen und Supermarkt-Mitarbeitende: sie alle arbeiten hier nach den gleichen Regeln der jeweiligen Kunst, so wie sie auch in Schöneberg, Heinersdorf, Charlottenburg oder Britz tätig sind. Und die Orte, an denen sie arbeiten, folgen nicht unbedingt der Logik eines großen Spielplatzes mit Flat-white-to-go Atmosphäre. Der Rewe-Pfandautomat sieht genauso aus wie im Rest Berlins und zieht Flaschen mit dem gleichen klappernden Geräusch ein. Das Müllauto leert auch hier die gleichen stinkenden Tonnen und die Briefmarke kostet die gleichen 70 Cent wie sonstwo. Die Dialoge mit ArzthelferInnen zu endlosen Wartezeiten sind nicht anders als in anderen überfüllten Praxen in ganz Deutschland. Vielleicht mit der Ausnahme, dass sich die Menschen hier NOCH mehr darüber beschweren, weil sie denken, je redegewandter und selbstbewusster man ist, desto mehr Recht hat man, in der Öffentlichkeit von dieser Gabe Gebrauch zu machen. Das Credo nach Augenhöhe und Gleichberechtigung ist schnell zur Seite geschoben, wenn die eigenen Interessen auf dem Spiel stehen und man außerhalb des eigenen Systems ja auch nicht wirklich an street credibility verliert.

In dem Supermarkt, den ich manchmal aufsuche, um mit schlechtem Gewissen Sachen, die in Plastik eingeschweißt sind, zu kaufen, tragen die Angestellten Namensschilder, vermutlich, weil jemand im Marketing mal rausgefunden hat, dass das so ein Tante-Emma-Laden-Gefühl bei KundInnen hervorruft. Frau Kücükdag, Frau Heinrichs, Frau Seifert, Herr Herrmann. Meine Lieblingskassiererin heißt Frau Steffens, zumindest nenne ich sie für diesen Artikel so, in Wahrheit heißt sie anders. Sie hat eine raue laute Stimme, eine Frisur, bei der ich denke, dass sie früher vielleicht mal Cindy Lauper mochte, und das, was sie selbst „Berliner Schnauze“ nennt. Als Biotop-Bewohnerin, die den Fuß in eine ganz normale Institution des öffentlichen Lebens setzt, weiß ich natürlich, dass sich damit auch der Kommunikationsethos ändert. Und so sieze ich beispielsweise Frau Steffens mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ich im veganen Supermarkt 25 Meter weiter völlig unbeleidigt auf die Frage „Brauchste sonst noch was?“ mit einem netten „Neee heute nicht, aber lieben Dank Dir für’s Fragen!“ antworte. Frau Steffens wiederum sagt du und Marianne oder Sonja nur zu ihren Kolleginnen, mich siezt sie natürlich, was anderes wäre UNDENKBAR.

Das „Du, Frau Müller“-Du, das ich wirklich nur aus Supermärkten kenne, und das seit meiner Kindheit, scheint sich übrigens in einem Prozess des Aussterbens zu befinden. Dies stellte ich bei der kleinen Stichprobe für diesen Text – zuhören an der Kasse bei ungefähr vier Einkäufen – fest (bei der Konkurrenz neulich hörte ich es allerdings nochmal). Auch die Nachrichten, die früher über die Lautsprecher der Supermärkte schallten „Frau Müller Kasse 3 bitte, Frau Müller Kasse 3!“ sind mittlerweile in ein Kabel und ein dem Ohr nachgeformtes Stück Plastik gewandert, das mit einem Clip an ihrem Kittel befestigt ist. Über den Lautsprecher selbst kommt nur noch leise Musik und maaaaanchmal eine Werbung, aber nur ein ganz klein bisschen, bloß nicht so aufdringlich, der Kunde soll es nett haben bei seinem Einkaufserlebnis. Frau Steffens trägt dieses Ohrdings allerdings nicht im Ohr, sondern hat es an ihr Namensschild geheftet. Als Brosche sozusagen. Ein kurzer Check nach rechts und links: sie ist nicht die einzige. Ich finde das gut. Wer hat gesagt, dass man beim Abkassieren auch noch direkt in den Gehörgang Infos gepustet bekommen darf, das ständige piep-piep des Warenscanners ist doch schon nervig genug.

Viele schauten die Angestellten gar nicht an, erzählte mir eine Kollegin von Frau Steffens, die ich mal fragte, wie es denn so sei, hier zu arbeiten. Da sei der Prenzlauer Berg schon sehr speziell. Sehr von oben herab. Naja, ich kriege von Frau Steffens an stressigen Tagen zur Begrüßung auch nur das Wort „Paybackkarte?“ zugeworfen, an guten ruft sie allerdings ein „schönen juten Tach!“. Ich freue mich immer, wenn ich zu Ihnen an die Kasse komme, sagte ich ihr neulich mal. Meist bemühe ich mich, zumindest in einen kurzen smartphonefreien Dialog an der Kasse zu gehen und mich gleichzeitig nicht darüber aufzuregen, dass der Konzern, der den Supermarkt betreibt, findet, dass dieser Dialog sich primär um Paybackkarte und Sammelpunkte drehen soll. Denn diese vorgegebenen Zwangsabfragen drängen den Kunden dazu, Kundenantworten zu geben und die Verkäuferin, Verkäuferinnenfragen zu stellen. Ich beantworte also die Fragen brav mit zwei schnellen „nein“, um dann zu den wirklich wichtigen Themen zu kommen, z.B. dazu warum heute alle genau um diese Uhrzeit kommen und nicht früher oder später, ob sie noch Zeit hat nach der Schicht die Sonne zu genießen und warum heute eigentlich alle soviel Milch kaufen. Wenn Frau Steffens dann lächelt, freue ich mich, ganz systemübergreifend ist doch dann das mit dem Du und Sie auch echt total wurscht. Wenn die ungeschriebenen Gesetze des Duzens und Siezens, in Deutschland für Nicht-Muttersprachler eh kaum zu durchschauen, ihre angespannte Regelhaftigkeit kurz verlieren und die Menschlichkeit in der Kommunikation im Vordergrund steht, dann gefällt mir das, und ich grinse mich wieder zurück in mein Biotop.

Neulich, kurz vor dem Schichtwechsel von Frau Steffens, ereilte sie ein Missgeschick. Der Kunde, den sie zuletzt abkassiert hatte, bevor sie ihre Kasse herausnahm, kontrollierte seinen Zettel und stellte fest, dass er nun doch 59 Cent und nicht wie für Biogurken üblich 89 Cent bezahlt habe. Ob es denn dann auch so sei, dass er vielleicht gar keine Bio-Gurke erworben, sondern eine normale, ja wie nennt man die denn dann. Nun konnte man ihm nicht einfach sagen, dass er sich eine neue – Biogurke – nehmen sollte, denn das Warensystem muss ja stimmen, bezahlt hatte er ja nicht für eine Biogurke. Und: der Handel ist gemäß EU-Verordnung zu eindeutiger Unterscheidbarkeit von Biogemüse/-obst und konventionellem Gemüse / Obst verpflichtet (Daher sind Biogurken in herkömmlichen Supermärkten übrigens meistens eingeschweißt).

Frau Steffens also wurde nochmal herbeizitiert, sie zuckte mit den Schultern, nu, die Biojurken seien doch immer in Plastik eingeschweißt jewesen, also zumindest bis jestern. Also ick dachte dit is ne Unbio-Jurke. Nee, sagt die Kollegin, da ist jetzt nur noch so’n Kleber druff, kiek ma. Ach wie soll ick denn dit sehn? Ob dit ne Bio oder ne Unbio-Jurke is? Dit hat ma keena jesacht. Sagt Frau Steffens. Fragen wa doch die Gurke selber wat se nu is, sagt die Kollegin, alle lachen, der Kunde ist ein bisschen rot im Gesicht. Was die Gurke geantwortet hat? Keine Ahnung. Storno Kasse 4 bitte, die Gurke wird nochmal neu bonniert, der Biogurkensalat im Duz-Biotop ist gesichert. Frau Steffens hört’s nicht mehr, die ist schon in der Pause. Soll doch ihre Brosche vor sich hinsprechen.

Monika Danner