Es gibt sicherlich viele Gründe, Facebook zu verlassen. Katzenvideos könnten einer davon sein. Ich gebe zu, dass ich einiges an Stunden verdaddelt habe, seit ich mein erstes Profil „damals in den 2000ern“ erstellt habe. Ich habe Katzen beobachtet, die auf Staubsaugerrobotern in fremden Wohnungen herumfahren, unbekannten Kleinkindern beim Kampf mit Spaghetti zugeschaut, Polizisten bewundert, die Entenküken aus einem Gulli vor dem Tod retten. Kleine blaue Handsymbole als Zeichen von Zuneigung verteilt. Und frage mich heute: Wie hat diese Form der Zeitverschwendung eigentlich jemals Einzug in mein Leben gehalten?
Hate speech ist sicherlich ein weiterer Grund; und der Müll, den man sich beim Lesen mancher posts und Kommentare so freiwillig über den Kopf schüttet, während gleichzeitig so hübsche Worte wie „Freund“, „teilen“ und „gefallen“ im Überfluss Teil unserer digitalen Identität geworden sind. Im Versuch, die sozialen Medien vor hate speech zu bewahren, habe ich mich eine Zeitlang der großartigen Initiative #ichbinhier angeschlossen und weiß, wovon ich rede.
Für mich ist der Grund jedoch vor allem einer: Fokus, und Konzentration aufs Wesentliche. Einer meiner guten Vorsätze 2019 ist es, mich wieder auf eine überschaubare Anzahl von Kommunikationskanälen zu konzentrieren, die ich nutzen möchte: als Empfängerin und als Senderin. Und eben auch: nicht benötigte zu verlassen. Und zwar wenn, dann richtig, das heißt: die Accounts zu löschen. Wieder selbst zu steuern, wie man wo mit wem sinnvolle Kommunikation betreiben möchte, ohne von Algorithmen berechneten timelines oder threads zu folgen. „Facebook verlassen“ steht nicht erst seit Robert Habecks Ausstieg auf meiner „irgendwann, vielleicht“-Liste.
Netzwerken, einst das Terrain der digitalen Bohème, ist ja längst zum kleinen 1×1 der WissenarbeiterInnen geworden. Das Internet kennt tausend Gründe und noch mehr Ratgeber, warum und wie netzwerken erfolgreich ist und die Antwort auf alle Fragen bei Existenzgründern, Frauen und überhaupt bei Menschen, die irgendwie Karriere machen wollen. Vielerorts bekommt man beigebracht, wie es geht, mitzumachen. Aber wieder aussteigen? Kommt das überhaupt vor? Wie löst man denn eigentlich ein Netz auf, das nicht mehr den eigenen Bedürfnissen entspricht, und das man nicht mehr bedienen möchte? Wie entwirrt man die Fäden und die sorgfältig geknüpften Knoten wieder, ohne gleichzeitig den digitalen Ozean mit dem eigenen virtuellen Restmüll dauerhaft zu verschmutzen?
Ich mache mich auf den Weg, genau das auszuprobieren.
Eine vierstündige Zugfahrt nach München, es regnet draußen. Das W-Lan funktioniert bestens. Ok, heute soll es sein. Einige Vorbereitungen habe ich bereits getroffen, meine ehemals hochgeladenen Dateien und Bilder sind schon herausgenommen. Der Plan ist nicht nur, das Konto zu löschen, was einfach wäre, sondern auch, alle digitalen Spuren, die ich bislang über den Account hinterlassen habe, und die noch für mich zugänglich sind, sorgfältig durchzugehen, bevor ich den letzten „Klick“ setze. Gruppenmitgliedschaften. Film likes. Ereignisse, Kommentare. Und natürlich: meine Kontakte. Freunde, wie sie hier genannt werden.
Ich habe in etwa 180 Facebook-Freunde. Im Vergleich zu einigen Profilen, und sogar zu meinen eigenen in berufsbezogenen Netzen wie XING und LinkedIn, wo ich Einladungen sehr viel großzügiger annehme, ist das nicht viel. Im Vergleich zu „reale Kontakte, die innerhalb meines wöchentlichen Freizeitkontingents als berufstätige Mutter möglich sind“, ist dies eine überwältigende Zahl. Wo kommen bloß all diese Leute her?
Ich beginne damit, meine Kontakte in „Körbe“ zu sortieren. Der erste bezeichnet die große Kategorie, die ich „Geschichte“ nenne, gemeint ist meine eigene. Er deckt eine ganze Reihe von Menschen ab, im Wesentlichen sind es ehemaligen SchulkameradInnen und Menschen aus der Studienzeit. Wie toll war es, als wir uns vor einigen Jahren zum ersten Mal wieder im Netz trafen! Wow, das ist Michael heute. Oh, und sieh dir Claudia und ihre tollen Kinder an! Wie süß! Die Nachbarsfamilie aus meiner Kindheit. Einige internationale Freunde, die ich in den vier Jahren, in denen ich als Schülerin an einem amerikanisch-europäischen Bildungsprogramm teilnahm, kennengelernt habe. Und noch ein paar andere, wie meine Au Pair Freundin, die ich hier nach einer mehr als 12-jährigen Kommunikationslücke wiedergefunden habe. Wir waren beide an neue Orte gezogen, die Telefonnummern hatten sich geändert und E-Mail war bei unserem letzten Treffen 1997 keine Option. Aber unsere Namen blieben die gleichen – also war es leicht, sie zu finden, als Facebook es endlich ermöglichte. Als ich schließlich nach all der Zeit vor ihrer Tür stand, wieder vereint durch ein damals sehr soziales Netzwerk, brachen wir beide in Tränen aus.
Was ich mit all diesen Verbindungen in meinem Geschichtskorb mache: Ich unterteile sie erneut, in „Leute, mit denen ich mich nur verbunden habe, weil ich ihr Profil hier gefunden habe und damals dachte, dass man es halt so macht“ und diejenigen, mit denen ich wirklich froh bin, heute verbunden zu sein. Was die erste Gruppe betrifft: Ich bin mit Menschen verbunden, denen ich während der Studienzeit nicht wirklich nahe stand, warum sollte ich ihn oder sie heute zu einem „Freund“ machen? Löschen. “ Unfriend“. Klingt sehr unhöflich und ich muss mich daran erinnern, dass es genau das ist, was das Netzwerk von mir will: mich schlecht fühlen, wenn ich jemanden „als (virtuellen) Freund entferne“, während unsere Verbindung das Unternehmen weiterhin mit (realen) Dollar füttern würde.
133 Kontakte übrig.
Die anderen im Geschichtskorb sind die wirklich wichtigen, wie meine Aupair-Freundin: Ich schreibe individuelle Nachrichten an jede/n von ihnen, schicke meine private E-Mail-Adresse, wenn ich mir nicht sicher bin, ob er oder sie sie sie hat, und meine aktuelle Telefonnummer, und schreibe von meinem Wunsch, in Kontakt zu bleiben. Außerdem überprüfe ich kurz mein Adressbuch, ob ich noch andere Kontaktdaten habe. Bei 80% ist die Antwort ja. Von den anderen erhalte ich schnell E-Mail-Antworten. Und ratet mal: Jeder sagt mir, was für eine gute Idee das doch sei.
Anzahl Kontakte geschrumpft auf: 101.
Der nächste Korb enthält die Daten von KollegInnen, auch von ehemaligen. Sie spiegeln ziemlich genau meine eigene Geschichte in den sozialen Netzen wider. In den Anfangszeiten habe ich mich mit allen verbunden, die ich kannte, es war einfach richtig, Kollegen einzubeziehen. Genauso wie Familienmitglieder auf XING. Facebook war cool, und warum nicht kleine persönliche Notizen mit denen teilen, mit denen man so viel Zeit bei der Arbeit verbringt. Dies ist die einfachste Gruppe. Mit allen bin ich über die professionellen Netzwerke verbunden. Kontaktdaten also geklärt. Ich lösche sie alle auf einmal.
Noch 78 Freunde.
Der Zug ist in der Nähe von Nürnberg – noch eine Stunde Fahrt nach München. Der schwierigste Korb ist mein Steptanz-Netzwerk. Die Tap-Community ist sehr international. Das Tolle an Plattformen wie Facebook ist, dass man nicht nur in Kontakt bleiben kann und den Namen der Leute beim nächsten Treffen im Unterricht wieder weiß, sondern auch Veranstaltungen und Workshop-Termine teilen kann, kleine Performance-Videos, Musikstücke, Unterkunftsanfragen für Workshops in anderen Städten. Man kann sogar die Community bitten, noch am selben Tag im Park in der Stadt xyz zu jammen. Diese Knoten zu lösen bedeutet richtig Arbeit, denn es beeinflusst die Art und Weise, wie ich mein Hobby in den letzten 10 Jahren ausgeübt habe. Das Argument habe ich übrigens schon oft gehört, wenn ich mit anderen Menschen in der gleichen Situation gesprochen habe. „Ich würde wirklich gerne Facebook (Twitter, Instagram…) verlassen. Aber ich kann es nicht. Alles rund um xyz (einfach Steptanz durch z.B. ‚Eichhörnchen-Beobachtungsgemeinschaft‘ ersetzen) ist hier organisiert“. Nun, ich glaube, du könntest. Es ist einfach mehr Arbeit, als du dir vorgestellt hast, als du dich angemeldet hast. Also noch einmal: Nachrichten mit meinen Kontaktdaten an diejenigen, mit denen ich in der Community in Kontakt bleiben möchte. Nachrichten an alle, die Unterricht geben, dass sie mich zu ihren E-Mail-Newslettern hinzufügen sollen. Ein Seufzer für all die kleinen Videos, die ich vermissen werde. Und ein Vermerk im Kalender eingefügt „Im Internet Daten für Festivals, Konzerte und Workshops 2019 heraussuchen“.
Mehr als halbiert haben sich meine Kontakte auf: 33.
Und dann: kommt da diese Kategorie von Familie, Freunden und Nachbarn. Leute aus dem wirklichen Leben. Nette Menschen allesamt, ich liebe es, ihre Bilder in auf meinem Handy zu haben. Für diese Menschen macht das Wort „Freund“ Sinn. Es sind diejenigen, denen ich vertraue und die ich schon seit langem kenne. Menschen, die meine Geschichte, meine Kinder, mein Haus kennen. Die keine Geburtstagswünsche an eine Wall posten, sondern mir Blumen bringen. Oder anrufen. Oder sogar, eine handschriftliche Geburtstagskarte schicken. Man könnte denken, dass es dies der schwierigste Teil des „Entfreundens“ ist. Das Gegenteil ist der Fall – ich sage es ihnen nicht einmal. Vielleicht, wenn wir uns demnächst auf der Party eines anderen Freundes sehen, lasse ich so etwas wie „übrigens, ich habe Facebook verlassen“ fallen. Niemand wird beleidigt sein, da bin ich mir sicher.
0 Kontakte übrig.
10 Minuten vor unserer geplanten Ankunftszeit fährt der Zug in München ein, begleitet von einem humorvollen Lautsprecher-Kommentar des Zugbegleiters. Ein kurzer Telefonanruf bei den Freunden, die ich besuchen werde, dass ich trotz Schnees pünktlich angekommen sei und nun weiter zu ihnen nach Hause führe. Es schneit draußen, wir trinken ein Glas Wein und haben viel zu quatschen, wir haben uns seit Monaten nicht mehr getroffen. Auch nicht virtuell. Meine Freunde hatten sowieso nie ein Profil auf Facebook.
PS Eine englische Version dieses Artikels, leicht gekürzt, ist hier auf LinkedIn publiziert.
Photocredit: Philipp Neumann
Schmunzel … Find ich gut. Ich habe Facebook auch den Rücken gekehrt. Entweder aus ähnlichen oder vielleicht sogar den gleichen Gründen, wie du. Und es lebt sich wunderbar ohne Facebook.
Da ist was dran. Einen erfüllten Tag wünsche ich Ihnen.