Guck mal, wer da spricht

Habt ihr Kinder? Im Schulalter? Wenn ja: Kennt ihr das Phänomen „Klassenchat“? (Wenn nein: seid froh. Oder aber: freut Euch auf das, was ihr noch dazulernen könnt in Sachen Chat-Etikette).

Ich persönlich dachte ja nicht, dass man als Elternteil jemals so viel Unverständnis für die Kommunikationsformen nachfolgender Generation entwickeln kann. Oder zumindest: ich hatte mir irgendwann mal vorgenommen, es nicht zu entwickeln. Damals war ich noch sehr jung und wollte gerne sehr oft sehr spät am Abend sehr lange telefonieren, was auf deutliches Unverständnis derjenigen, die den Telefonanschluss bezahlten, stieß (kennt ihr noch den Satz „Blockiere nicht immer das Telefon!!!“?). Heute, 30 Jahre später, habe ich die Seite gewechselt. Und ertappe mich dabei, den Sinn der meist eingesprochenen Fetzen zu hinterfragen, die Tag und Nacht als unendliche Schlange von gefühlter Nicht-Information über den Bildschirm meines Kindes robben. Hier ein kurzer – natürlich frei erfundener – Einblick in ein Familienleben 4.0, zwischen Abendbrot und Schlafengehen in Form eines Transkripts der eingegangenen Sprachnachrichten:

18:07 Emil: Weiß jemand ob morgen Englisch ausfällt?

18:09 Sophie: nee keine Ahnung

18:10 Enno: (Rauschen, Hintergrundgeräusche)

18:11 Enno: Wär voll cool

18:23 Carla: also ich hab das auch gehört aber sicher bin ich nicht

18:38 Carla: äh also ich meinte vorhin Luis hat das gehört und ich hab es von Luis gehört

19:12 0160-1489~: haben wir morgen kein Englisch und müssen wir dann erst

19:12 0160-1489~: zur zweiten

19:14 Antonia: Doch eigentlich schon aber Paul hat auch irgendwie von seiner Mutter gehört dass es ausfällt

19:16 Emil: Ey Paul frag doch mal deine Mutter

19:17 Carla: Rokko, wir haben wenn dann in der dritten Englisch. Also ich mein kein Englisch

….

Ok, ich verstehe, dass es lustig ist. Ich hätte es auch genutzt. Die Vorteile von Sprachnachrichten leuchten mir sofort ein: Anders als bei telefonieren muss man nicht synchron am Gerät hängen und sich auch nicht verabreden. Man schickt die Info einfach los, wenn man sie im Kopf hat und muss sich nicht aufschreiben. Das ist entlastend. Es muss übrigens auch gar keine Info sein – s.o. Man kann ein Geburtstagslied singen oder eine coole Geschichte erzählen, wen man grad beim Knutschen auf der Straße gesehen hat. Und verbrennt dabei noch nicht mal Guthaben. („Weil Wlan“, würde mein Kind sagen und mit den Augen rollen). Man kann Liebe oder Begeisterung in die Stimme legen, ohne die schon ein wenig in die Jahre gekommenen Emojis bemühen zu müssen. Kleine Kinder können Oma fröhliche digitale Grüße schicken. Und man kann sich – als EmpfängerIn – an der Stimme des anderen erfreuen, Zweifel heraushören, Unsicherheit interpretieren, Nebengeräusche erforschen oder einfach nur mal wieder denken: was für ein cooler Hund. Und das, ohne dass man sich zum Telefonieren verabreden muss oder am Ende gar spontan telefoniert, denn das wiederum ist ja schon fast analog und damit out. Seit 5 Jahren bietet WhatsApp und mittlerweile auch die Konkurrenten diese Möglichkeit, mit wachsender Beliebtheit; der IT Verband BITKOM sagt: Drei Viertel der unter 30jährigen nutzt bereits die Möglichkeit der Sprachnachricht.

Die TAZ sagt: Schlimm. Ausgeburt des Egoismus. Ellenlanges Rumgelaber ohne Sinn und Verstand. Wow, das sind starke Worte. Labert unsere Jugend nur noch rum?

Oder ist das alles nur ein Missverständnis, und in Wahrheit etabliert sich eine Tiefe von Beziehungen, die man außerhalb des Klassenchats einfach nicht spüren kann, und die für lebenslange Insider sorgen, in denen sich das unerreichte Gemeinschaftsgefühl einer Klasse manifestiert?

In ganz anderem Zusammenhang habe ich mir neulich mal wieder den Youtube-Clip „Did you know“ des spanischen IT-Profs José Esteves angesehen, weil ich ein paar Zahlen und Fakten zur Digitalisierung für einen Vortrag brauchte. Esteves stellt seit 2015 jedes Jahr solche Daten zusammen; eigentlich ist es nicht viel mehr als eine animierte Powerpoint – die trotzdem ein „wow“ auslöst, einfach weil die Macht der sehr dicht angebotenen Informationen überwältigend ist. Ein bisschen anstrengend emotionalisierte Musik läuft im Hintergrund, aber trotzdem ist der Clip irgendwie cool. Die 2017er Variante finde ich noch ein bisschen besser als die aktuelle 2018er. Gerade die Tatsache, dass von „Steve Jobs introduced the first iphone“ (2007) bis zu „quasi jeder hat’s in der Tasche“ (2017) gerade mal 10 Jahre liegen, ist für mich ein sehr eindrückliches Bild für Digital Change.

Ein Bild, das ich aus dem Film mal gescreenshotet habe, ist dieses:

Grafikquelle: José Esteves

Im nächsten Chart wird auf das Kommunikationsverhalten geschaut – übersetzt so:

Grafikquelle: José Esteves, Weiterbearbeitung: MD

Jaja, es sind Klischees, und die Begriffe lösen unterschiedliche Interpretationen aus. Auch die Behauptung, dass der Anzugträger links zumindest in Deutschland vermutlich Thomas heißt, der als Boomer bezeichnete Mappenträger vermutlich Michael oder Stephan, seltener Bettina oder Martina. Charlotte und Patrick jedenfalls schicken gerne mails, während Linda und Leo nur am Chatten sind. Aber lasst uns doch mal mit den Klischees spielen. Was anderes tut die Persona-Methode auch nicht. Auf die eigene Organisation geschaut, könnte da einiges an Erkenntnismöglichkeit drinstecken.

Denn wer hat eigentlich welches Kommunikationsbedürfnis? Wenn man mit „Personas“ – also typischen VertreterInnen einer Zielgruppe, wie z.B. „junge berufstätige Mütter in urbanen Regionen“ arbeitet, sieht man meistens auf den/diejenigen, die man besser verstehen möchte, weil man ihnen etwas verkaufen mag. MyMüsli z.B. oder Bugaboo-Kinderwagen. Oder wellness-Gutscheine. Man schaut nach Präferenzen, Gewohnheiten, Orten. Auf RatgeberInnen, auf relevante Peers. Und Kommunikationswege. Devices, die ja immer irgendwie auch das Potenzial haben, Werbeträger zu sein. Nicht nur die Geräte unterscheiden sich, auch der Inhalt dessen, was besprochen wird: Ob es um Kinderwagen geht oder eben, wie oben, um Englisch-Unterricht. Oder um Business Strategien. Übersetzt auf Bürojobs liegt die Vermutung nahe, dass mit einer unterschiedlichen Einstellung der viel beschworenen Gen Y oder auch der Gen Z (ich bin gespannt, welche Nomenklatur in 20 Jahren angewendet wird!) auch ein ganz unterschiedliches Vokabular hinterlegt ist, das irgendwie zu Arbeit gehört. Und über viele Jahre antrainiert ist. Z.B. könnte so eine Vokabular-Wolke – genauso frei erfunden wie der oben genannte Chat – z.B. so aussehen:

Grafikquelle: José Esteves, Weiterbearbeitung: MD

Wenn dann also Best Ager und Freund klarer Verabredungen Thomas zufällig ein Vorgesetzter ist, der wiederum mit Charlotte spricht, kann dann so ausgehen, dass „Homeoffice“ gefragt wird – weil Charlotte findet, dass sie ein Konzept für strategische Personalplanung einfach besser bei Ingwerteee mit Katze auf dem Schoß erstellen kann – und Thomas „Telefonliste“ hört. Oder „Rücksprache“. Vielleicht hört er es auch nicht, sondern fühlt es mehr, als eigene Last und im Sinne von: „Dann muss ich aber Charlotte an dem Tag mal anrufen, damit sie weiß, dass sie nicht frei hat.“

Oder auch als Angstgefühl („Wenn Charlotte jetzt kommt, fragt bald auch Patrick“).

Wohlgemerkt, Thomas ist ja auch klug und weiß, dass er als moderner Vorgesetzter im Jahr 2018 Homeoffice schlecht verbieten kann. Er kann es aber vielleicht als Argument im nächsten Gespräch mit Charlotte nutzen, wenn Charlotte mehr Urlaub fordert. Denn eigentlich hat sie es ja schon ganz cool im Leben, mit der Katze und so. Was will man mehr? Warum ist sie immer noch nicht zufrieden? Charlotte, die auch nicht doof ist, und natürlich vorher mit Patrick gesprochen hat, versteht nicht, warum Thomas so komisch ist, obwohl doch ihre Konzepte bislang immer super waren.

Oder auch Leo, der neue Methoden im Team einführen will und über Slack kollaborativer arbeiten möchte. (Für alle die es nicht kennen, die Kurzfassung: slack ist wie WhatsApp für Gruppen, in Themen sortiert, denen man nach Einladung eines Mitglieds beitreten kann und auch die vorherigen Nachrichten lesen; außerdem kann man allen möglichen Kram machen wie z.B. Umfragen)

Also, unser Coworking-Leo sagt: Slack.

Performance-Stephan, in dessen Jahresgespräch gerade die Einführung agiler Arbeitsmethoden von Thomas, s.o., notiert wurde, und der dringend Ideen braucht, wie er das macht, daraufhin im Teammeeting: Ja voll cool, also der Leo hat hier so eine Idee, das machen wir jetzt. Leo bitte erklär das mal kurz.

Nicht-Chef-Martin, ansonsten gleiches Baujahr wie Thomas und auch Fan des gleichen Fußballvereins, der sich ungern zu Technik äußert, die er nicht versteht, sitzt im gleichen Meeting. Er denkt „Ok, jetzt muss ich wegen Leo, der grad mal ein halbes Jahr hier ist, und noch gar nicht weiß, was Sache ist, schon wieder was Neues machen – darf ich nicht einfach mal arbeiten?“

Martin schweigt also, was Leo wiederum doof findet, denn er weiß ja, dass Martin das mit slack eh nicht rafft, wo er doch als einziger schon kein WhatsApp hat. Auch Leo fühlt sich irgendwie nicht ernstgenommen und denkt, dass man das so eh nicht hinkriegen wird mit der Veränderung hier im Laden; nach der Teamsitzung aktualisiert er erstmal sein LinkedIn-Profil und stellt es auf „auf Jobsuche“.

Am Ende stehen beide – nacheinander natürlich- am Kaffee-Automaten und lästern übereinander, und Charlotte fühlt sich mal wieder bestätigt, dass man echt nur im Homeoffice vernünftig arbeiten kann.

Hallo! Das ist eine total erfundene Geschichte. Frei ausgedacht, jede Ähnlichkeit mit …. und so weiter…. unbeabsichtigt!!

Zurück zum Klassenchat und dem, was man dann vielleicht doch aus diesen ganzen, sehr unterschiedlichen Kommunikationskanälen lernen kann. Zum einen: Die Frage von Devices und Tools ist mehr als die von Können und Nicht-Können, von Wollen und Nicht-Wollen, von alt und von jung. Es geht um Toleranz und die Bereitschaft, auf Bedürfnisse anderer einzugehen. Und: eigene Bedürfnisse auch mal zurückzustellen. Mein Bedürfnis ist es nicht, Sprachnachrichten zu bekommen, und das darf ich auch sagen. Aber wenn andere das gerne nutzen wollen – bitte! Ich finde Euch deswegen nicht doof; will aber auch nicht doof gefunden werden, weil ich diesen Kommunikationsweg nicht nutze. Vielleicht finden manche  slack cool. Vielleicht ist es aber im Team grad noch nicht dran. Weil insgesamt noch nicht geklärt ist, was eigentlich an welchem Ort auf den Tisch kommt, und wer welche Informationen eigentlich in welchem Format braucht, um gute Arbeit leisten zu können. Redet nicht über „tools“. Redet über „rules“, und auf was ihr Euch einigen könnt.

Das neueste, mit dem wir zuhause konfrontiert sind, sind im Übrigen Video-WhatsApp-Gruppenchats. Verbieten!!! Zu viel Bildschirm!! ruft mein Eltern-Ich. Schon irgendwie lässig, raunt mein Teenie-Ich, und prüft mit kurzem Blick den Coolness-Faktor des eigenen Flurs, der nun gelegentlich im Chat als Kulisse auftaucht. Denn spießig wirken, das will man als Eltern: auf gar keinen Fall.

Monika Danner

PS.: wer mal der eigenen Persona live begegnen will, dem empfehle ich dringend die Teilnahme an einer Fokusgruppe im Rahmen einer Marktforschung. Ich hatte das Glück, dieses Jahr als Käuferin von Mädchenklamotten eines bestimmten Labels von diesem gefragt zu werden. Es ist erheiternd, aber dann doch auch frustrierend, 11 weitere Ausführungen, mit geringen Abweichungen, von sich selbst zu treffen. Aber der Kaffee schmeckt, und man ist sich, häufiger als im Job übrigens, in so einem Meeting meistens total einer Meinung.

 

Bildquelle Beitragsbild: freestockgallery.de