Alles so schön laut hier!

Ich habe einen Brieffreund. Er heißt John, ist sehr treu und schreibt mir einmal im Monat. Und dass, obwohl ich ihm nie antworte. „Hi Monika!“ gehen seine Briefe los, die in Wahrheit Mails sind. Manchmal auch nur mit „Monika!“ Ich hab‘ gelernt, das macht der Amerikaner so, es klingt irgendwie professionell und man fühlt sich so, als ob man endlich richtig englisch kann, wenn man nicht mehr die altbackenen Briefformeln aus der Schulzeit benutzt. Das Problem ist, dass ich mir dazu immer die Stimme meiner Mutter vorstelle, wenn sie zum 2. Mal zum Essen rief. Wenn ich „Monika!“ lese, höre ich in Wahrheit „Monika!!!!!!“ John versucht mich einmal im Monat davon zu überzeugen, dass ich jetzt aber wirklich seinen „Recruiting Support & RPO“ einkaufen soll. Er schickt mir manchmal eine bunte Liste mit Logos von anderen, die das auch gekauft haben, und sagt mir, dass das echt eine gute Sache war. Als ich mich frage, was RPO ist, bekomme ich schon eine nächste Post von John, der das wahrscheinlich gemerkt hat, weil ich schon wieder nicht geantwortet habe, „What is RPO“ heißt die Mail. Neben John habe ich auch noch andere Brieffreunde und -freundinnen. Christle mailt mir z.B. öfter mal, ihre Mails beginnen mit „I just wanted to touch base!“ was echt cool klingt. Brian möchte mir ab und zu erzählen, wen er letzte Woche gesprochen hat, Greg fragt, ob es mir denn gut gehe?, Paige ist sich sicher, dass ich ihr fantastisches neues Buch bestimmt mag, Anne fragt sich, ob ich ihre letzte Nachricht vielleicht verpasst habe? Und Tiffany bedankt sich für den incredible support throughout this time (ok ich kann mich gar nicht dran erinnern, aber wenn sie es sagt…?). Die meisten dieser Brieffreunde sind international. Ein paar kommen auch aus Deutschland, aber die schreiben nicht so nette „Hi Monika“-Sätze am Anfang.

Die Mails von John und seinen Freunden spammen meinen Account voll, ohne dass ich sie haben möchte oder brauche. Viele erreichen mich zudem zu Zeiten wie sieben Uhr morgens oder auch gerne mal um 21:45 abends. Die müssen mich echt mögen, könnte man denken, dass sie sich vor bzw. nach der Arbeit echt hinsetzen, um sich bei mir zu melden. Aber weil ich vor etwa einem Jahr ein online Training zum Thema Social Recruiting erfolgreich abgeschlossen und seitdem die Tricks und Kniffe des Active Sourcing drauf habe, bin ich schlauer. Unter anderem ging es im Training um die beste Uhrzeit, wann man potentielle Kandidaten kontaktiert, so dass sie sich für ein Jobangebot interessieren. Außerhalb der Arbeitszeit, so die zentrale Botschaft, morgens um 6, wenn der Wecker klingelt und mensch häufig das erste Mal aufs Handy schaut. Oder abends, wenn die netflix-Generation nach ein wenig facebook-Gedaddel beschließt, das schlechte Gewissen bezüglich der eigenen digitalen Abhängigkeit zu beruhigen, indem nochmal die Mails gecheckt werden. Ist ja Arbeit und irgendwie wichtig. Musste sein. Nur kurz noch. Und schwupp, schon ist da die Post von John. Oder Greg. Oder Paige. Denn dass morgens und abends der Eintritt in die Mailfiles und die Gehirne ihrer Besitzer leichter ist, wissen mittlerweile nicht nur Recruiter, sondern auch findige Vertriebler aller Couleur. Ich habe in dem Training auch verstanden, dass die meisten Mailprogramme die Möglichkeit eines zeitversetzten Sendens anbieten („Wiiiiie das wusstest du noch nicht?“ „NEIN!“ „Echt jetzt!?“).

Das, was die Johns und Annes und Paiges tun, wenn sie Kandidaten anmailen oder potenzielle Kunden wie mich: sie schreiben eine Mail und ehrlich, liebe Dienstleister aus Deutschland, AmerikanerInnen können echt gut mails schreiben. Ich mag freundliche mails, auch wenn ich bei „Monika!“ ohne „Hi!“ zusammenzucke. Ich brauche tatsächlich länger als bei der typischen deutschen Werbe-Mail, sie als solche zu identifizieren, weil ich in den ersten Millisekunden wirklich wirklich kurz denke, persönlich gemeint zu sein. Schon habe ich Zeit investiert. Als nächstes individualisieren sie diese mails neben der Anrede so, dass sie beim Kunden jeweils zu einer Tagesrandzeit ankommt. Mit Hilfe des entsprechenden IT-Supports geht diese Mail an hunderte, vermutlich tausende Adressen, die sie vorher von irgendeinem anderen Dienstleister gekauft haben, denn ich jedenfalls habe meine Adresse nie an Jon und Anne und Paige gegeben.

Und ich will ihre Mails echt nicht haben; gegen Post aus USA hilft aber auch keine Europäische Datenschutzgrundverordnung. Da man ja selbst auch die Tricks der Mailprogramme kennt, wappnet man sich halt wohl oder übel. In den Spamordner und ab sofort ist Ruhe. Zumindest wenn man an dem Angebot nicht interessiert ist; letztendlich basieren die Geschäftsmodelle des Massenvertriebs ja darauf, dass eine einstellige Anzahl von Menschen aus einer fünfstelligen Anzahl von Menschen antwortet. Es beginnt ein Wettrüsten zwischen potentiellem Kunden und findigen Vertrieblern. Manche Dienstleister wechseln mit jeder Mail die Namen, da sie den Trick mit dem Spamfilter schon kennen. Aus Paige wird dann Suzanne wird dann Rose.

Im Recruiting, also im Finden von MitarbeiterInnen für freie Stellen, bietet die Digitalisierung fantastische Möglichkeiten. Unterlagen müssen nicht mehr händisch hin und hergeschickt, entscheidende Qualifikationen können automatisch aus CVs ausgelesen werden. Und: mit Netzwerken wie XING und LinkedIn hat sich die Personalgewinnung für viele Jobs einmal um 180 Grad gedreht. Nicht mehr nur Arbeitgeber können von BewerberInnen gefunden werden, sondern auch KandidatInnen selbst, z.T. ohne dass sie das im ersten Schritt wissen. Man mag das Headhunting light nennen, Fakt ist: Das Netz ist ein riesiger Visitenkartenstapel geworden, frei sortierbar nach Herkunft, Interessen, Qualifikationen, Orten. Emailanschriften aller Recruiter im Raum Frankfurt? Kein Problem, wenn man die richtigen Suchmechanismen anwendet. M&A-Spezialisten in München? Tadaaa… hier sind sie. Und schon weiß Tiffany, bei wem sie sich für den incredible support bedanken soll.

Daten sind die Währung der digitalen Gesellschaft, und dort, wo Daten erhoben werden können, werden sie zur messbaren Zielgröße. Es gibt Personalberatungen, die messen den Erfolg und die Zielerreichung ihrer Mitarbeiter an der Anzahl neuer LinkedIn-Kontakte, ganz egal, wer dahinter steht. Heißt ganz offen: Die Zahl der Verbindungen bestimmt das Gehalt. Unseriös? LinkedIn jedenfalls hat das Modell verstanden und wird nicht müde, immer weitere Kontakte aus den digitalen Weiten vorzuschlagen. Wer eigentlich dahinter steht, welcher Mensch, mit welchen Interessen, das ist längst egal. Und so wie der Sammler von Briefmarken, Parfümflakons oder Plastiknilpferden einen unerschöpflichen Hunger nach mehr hat, so sammelt auch John vermutlich jeden Tag weiter Adressen für seine Mails ein, denen er die bunten Logos senden kann, denn dafür wird er bezahlt. Selbst hat er natürlich auch ein Profil und postet, was das Zeug hält. Der moderne Visitenkartenstapels schreit. Laut. Und zwar rund um die Uhr. Die Kärtchen wollen gehört werden, zumindest, wenn jemand dahinter steht, der etwas verkaufen möchte, Dienstleistungen oder auch Bitcoin-Deals, seit neuestem auch Kredite, wie mir kürzlich über LinkedIn angeboten. Unsere email-Accounts drohen übervoll zu werden, sind es häufig schon, und so hoffen John und Paige und Greg und all die anderen, wenigstens morgens oder abends kurz unsere Aufmerksamkeit zu erhaschen. Mit einem Post, mit einer Mail. Einfach lauter sein als die anderen. Hübsche Fotos hier, nette Anrede da. Und wir machen mit, hören hin, auf das virtuelle Geschrei, sobald wir in die Falle gehen und süchtig nach dem kurzfristigen Dopaminschub morgens und abends reinschauen, schnell noch ein paar likes verteilen und mails checken.

Manchmal überlege ich mir, wer sich eigentlich hinter dem Geschrei so verbirgt. Ob John gerne Bier trinkt oder lieber französischen Rotwein, wenn er sich dann heiser gebrüllt hat. Ob es vielleicht lustig wäre, mal mit ihm auf ein Nina Hagen-Konzert zu gehen. Und dass Paige im echten Leben bestimmt gar nicht schreit, sondern eher schüchtern ist. Ich stelle mir vor, wie sie sich, wenn sie ihre Mail versendet hat, die bordeauxfarbene Strickjacke glatt streicht, und mit einer Tasse Tee in der Hand zu ihrer Chefin am anderen Ende des Großraumbüros geht. Die Chefin blickt kurz von ihren Mails auf und fragt: „How many?“. Paige räuspert sich und antwortet „1.146“, wissend, dass ihre Quartalsziele damit noch lang nicht erreicht sind. Die Chefin lächelt etwas schief, schaut wieder auf ihr Macbook und sagt „no worries there’ll be more to catch tomorrow“.

Monika Danner

PS.: Einer meiner Buchfavoriten dieses Jahr ist übrigens „Still“ von Susan Caines. Für alle, die nicht so gerne angeschrien werden mögen. Und für alle, die selbst nicht gern laut sind. Ich mache hier in den blog extra keinen Amazon Link rein, denn ihr alle kennt sicher eine/n supernetten BuchhändlerIn im Viertel, bei dem ihr das viel lieber kaufen mögt.

PPS.: Als digitale Ohrenstöpsel empfehle ich folgendes: Erstens; keine Mails vor acht. Zweitens; keine Mails nach acht. Lässt sich beliebig erweitern auf sämtliche social media apps. Die Mails und posts von John sind morgen auch noch da, versprochen. Die von Paige auch. Number 1.147.

Ein Gedanke zu “Alles so schön laut hier!

  1. Hi Moni,

    Great stuff. Interesting, and very well written. Nice one.

    Take care,

    Ed

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