Wenn ich an peinliche Erlebnisse meiner Schulzeit zurückdenke, gibt es eines, auf das ich aus der selbstbewussten Erwachsenenperspektive noch immer mit kopfschüttelndem Blick schaue. Ein sonniger Vormittag in einem Musikraum, die Aufgabe war das Vorsingen eines Liedchens; wir mögen so im 10. oder 11. Jahrgang gewesen sein, die Irrungen und Wirrungen der Pubertät in vollem Gange. Vorsingen. Vor. Allen. Obwohl als Klassensprecherin nicht auf den Mund gefallen, scheute ich die Blamage und das Scheitern. Das offene Grinsen der Chaoten aus der letzten Reihe. Das versteckte Grinsen derer, von denen man gemocht werden wollte. Die Imaginationskraft, dass diese Angst bei allen vorhanden sein könnte, hatte ich nicht; mit schwitzenden Händen wartete ich auf das Aufrufen meines Namens und ließ mir dann die Optionen kurz erklären (Singen und Bewertung; Nicht-Singen und eine „6“). Ich traf eine Wahl und entschied mich kurzerhand für die 6. Hände wieder trocken, nix riskiert und bei den peers sogar noch Coolness-Punkte für Aufsässigkeit eingesammelt. Bereut habe ich das nie; mich aber trotzdem oft gefragt: warum habe ich nicht einfach gesungen?
Ganz normal, bestätigt dieser Tage das Journal of Personality and Social Psychology, in der Studie eines Mannheimer Forschungsteams. Verletzlichkeit zeigen, das liegt uns Menschen nicht und entsprechend bemühen wir uns, derartige Situationen zu vermeiden. Wir sind cool, so lange: das Liebesgeständnis, das Vorsingen, das Gestehen einer Missetat in ferner Zukunft liegt. Je konkreter das heranrückende Ereignis jedoch in unserer Vorstellung wird, desto schrecklicher scheinen die Konsequenzen. Wir fürchten das Urteil der anderen, sind wir es doch gewohnt, uns in einer Welt permanenter Bewertungen, positiver wie negativer zu bewegen. Interessanterweise bewerten wir jedoch andere, die sich öffnen, viel positiver, so das Ergebnis der Studie; wir abstrahieren das Ergebnis viel stärker und würdigen die Bereitschaft, etwas preis zu geben.
Jemand, der Menschen hilft, Bewertungen gänzlich hinter sich zu lassen, und sich dennoch zu öffnen, ist Johanna Seiler. Der Beruf, den sie hat, und dessen Inhalt sie selbst erfand, ist mit „Vocal Improvisational Artist“ nur unzureichend beschrieben. Sie ist studierte Musikerin und Komponistin, Coach und Lehrerin, Gründerin, networkerin und Organisationstalent in einem. Und sie bringt Menschen zum Singen, genauer: zum improvisierten Singen. Einen Großteil ihrer Zeit verbringt Johanna – mittlerweile europaweit – in Workshop-Räumen mit Menschen, die genau das bei ihr lernen wollen: Loszulegen ohne Noten, ohne Vorgaben, ohne Text; noch nicht einmal ohne vorherige Festlegung auf ein Genre. In den Workshops und Konzerten ihrer Gruppen entstehen so traurige Soli, jazzige Trios, oder auch ganze Choräle.
Als klassisch ausgebildete Musikerin kennt Johanna die Ängste vor Kritik und auch das Lampenfieber vor Konzerten sehr gut. Auf der Suche nach freieren Kompositionsmöglichkeiten – für ihren festen Chor schreibt sie regelmäßig Stücke – entdeckte sie vor Jahren die vokale Improvisation. Sie belegte Kurse bei einer Lehrerin aus dem Umfeld Bobby McFerrins, selbst noch mit zitternden Knien und viel Überwindungskraft. Bereits im zweiten Kurs wurde sie gefragt, ob sie nicht selbst unterrichten wolle. „We need more people, who are kind to others“, ermutigte sie die Lehrerin. „Mir hat gefallen, was es mit den Menschen macht. Die Leute sehen so viel schöner aus, wenn sie sich mehr zutrauen… Das wichtigste ist mir, dass die natürliche Stimme frei wird und ungehindert klingen kann. Ein Vorwissen der Musiktheorie oder eine bestimme Stimm-Ausbildung muss dafür niemand haben; mir geht es mehr darum, alles beiseite zu schaufeln, was die gesunde Stimme einschränkt. Ich finde irre, was das bei Menschen ausmacht, wenn die Stimme frei wird.“
Und so startete sie ihr business SafePlaceMusic in Berlin, zunächst in kleinen Gruppen mit Freunden und Bekannten, mittlerweile mit Anfragen für Workshops aus Städten europaweit. Eine umfangreiche Übungssammlung ist entstanden, auch organisatorisch ist sie bestens aufgestellt: Von Ersatzsocken für frierende Teilnehmerfüße bis zum homöopathie-tauglichen Tee ist alles mit dabei im Kursgepäck.
In den Improvisationskursen selbst ist die Aufgabe, nach der eigenen musikalischen Intuition suchen, immer ausgehend von dem, was im eigenen musikalischen Methodenkasten vorhanden ist. Und vor allem: mit der Bereitschaft, weniger zu beurteilen, sich selbst und die anderen. Um es leichter zu machen, bietet sie den Teilnehmenden das Bild der Musikgöttin auf der Wolke an, diese „schickt“ in diesem Moment die Musik, die der Improvisierende dann hörbar macht: ob mit Melodie, oder als Sprechgesang in Fantasiesprache, mit Text oder ohne. Das Bild entlastet von der eigenen Verantwortung für das, was sich an Tönen formt. „Beurteilen ruiniert die Möglichkeiten. Die erste Hürde, die häufig auch erfahrenen Musikern im Weg steht: sich selbst die natürliche Erlaubnis zu geben, einfach da zu sein, mit dem, was grade kommt. Wenn du bei Improvisation darauf zielst, dass es großartig sein muss, wird es anstrengend und wirkt konstruiert. Natürlich greift man in den musikalischen Werkzeugkasten, der auch gern stetig erweitert werden darf und nutzt diesen. Die Kunst ist es jedoch, dich in jedem Moment neu dem intuitiven Prozess anzuvertrauen und in diesem Prozess – so wertfrei wie es geht – deinen Teil in dem Ensemble zu übernehmen.“ Auch Misstöne sind dabei willkommen, selbst wenn man den Gesang des anderen nicht immer versteht. „Du denkst ‚Hilfe! Ich will nach Hause!‘. Irgendwann überwindet man, dass man sich gerade ärgert oder geniert, wenn einer grad quietscht; oder wenn man denkt, was ist das für ein hässliches Genre…! Auch für mich selbst ist es ein Geschenk, das ich aus der Improvisation gelernt habe. Es ist super, wenn man nichts mehr beurteilen muss.“ Sie selbst bewertet bei den Teilnehmenden maximal die Authentizität des Vorgetragenen, niemals die Ästhetik, hier gibt es kein richtig oder falsch.
Improvisation und Loslassen: Nicht jedem fällt es leicht, sich der Intuition zu überlassen, geübte Rollenzuschreibungen und Bewertungen abzulegen. Diejenigen, die sich selbst unterschätzten, seien dabei leichter zu unterrichten, als diejenigen, die sich bezüglich des momentanen Stands des eigenen Könnens überschätzten. Denn: „In der Übung tarnt sich manchmal das Ego als Intuition. Es ruft dann ‚Hallo, ich bin die Intuition!‘. Man verwechselt dies leicht. Menschen, die sich überschätzen, versuche ich bewusst in der Übung mit anderen zu gruppieren, die deutlich mehr Erfahrung im Thema Stimme und Improvisation haben. Selbsterkenntnis ist der einzige Weg.“ Wenn sie das Gefühl hat, die Leute kommen nicht selbst drauf, stellt sie Fragen. „Fällt dir auf, dass du gerne anfängst? Mach dir mal Gedanken, warum. Willst du die Leute retten? Ist dir das Schweigen zu laut?“
Laute und leise Stimmen; höhere und tiefere Klänge. Stimmen, die dunkler oder heller klingen, vertraut oder fremd. Die Stimme ist Teil unserer Identität. Total analog und unverwechselbar. Vermutlich ist das auch ein Grund, warum wir besonders verletzlich sind, wenn sie kritisch bewertet wird. Das „Vorsingen“ ist hat sich auch im metaphorischen Sprachgebrauch als negativer Begriff festgesetzt.
Im Konzert schließlich diejenigen zu beobachten, die einen Jahreskurs belegt haben, ist auch deshalb spannend – neben den ungewohnten Rhythmen und Klängen, die den Ohren angeboten werden – weil es sehr gut den Raum zeigt, den die Teilnehmenden einander geben. Physisch wie zwischenmenschlich: Nähe und Distanz der SängerInnen sind verhandelt und geklärt. Es gibt deutliche Qualitätsunterschiede, aber keine Hierarchie; wechselnde Leads, aber keine Anführer; Nähe, aber kein übertriebenes Kuscheln. Und dort, wo sich bei einer starken Stimme ein „Contra“ aufdrängt, entsteht es wie von selbst aus der Gruppe. Kontrollverlust und Loslassen scheinen sich gut anzufühlen; „Vorsingen“ hat sich aufgelöst in „Sound sein“.
So frei zu singen, und ohne die Furcht vor Beurteilung durch andere durchs Leben zu gehen: hätt‘ ich damals nur ein bisschen was von dieser Haltung gehabt, im Musikraum; so denke ich heute nach dem Gespräch. Vielleicht braucht es für mich aber auch gerade das Erlebnis der Wirkung, wie viel Luft noch nach oben ist, um Lernen zur eigenen Haltung ermöglichen? Und über das eigene, vielleicht gekränkte Ego irgendwann zu lachen. Intuition zuzulassen. Beurteilung abzulegen. Musikgöttin, sprich zu mir! Und bitte bitte: doch auch gleich mit so manchem anderen Ego auf den Bühnen des Alltags…
Monika Danner
PS.: Wenn mir die Musikgöttin wieder mal befiehlt, Schlager der 80er Jahre zu intonieren, mache ich glaube ich trotzdem lieber die Badezimmertür zu und schicke mein Kind auf den Spielplatz.
PPS: Wer neugierig geworden ist: auf www.johannaseiler.com findet man alle Kursangebote und Konzerttermine. Oder hört sich die Kostprobe eines „Circle Songs“ von 2013 an: